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Ausländer sein - Risiko oder menschenunwürdige Gesetzgebung?

Ein komplexes Thema wie Migrationsrecht verständlich und umfassend darzustellen, ohne einen einzigen Artikel zu zitieren: Die Herausforderung, welche sich Professor und Jurist Peter Uebersax stellte, bewältigte er meisterhaft. Was Risiko im migrationsrechtlichen Zusammenhang bedeutet, wurde den Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Engelberger Sommerakademie klar und Emotionen fanden ihren Platz - obgleich nur diskret. 

Recht und Risiko sind eng verknüpft – auf verschiedenster Art und Weise. Gewaltentrennung und Grundrechte schützen uns vor Staatswillkür, Staaten werden durch die internationale Gemeinschaft und das Völkerrecht behütet. Der Staat ist aber auch zuständig dafür, seine Bevölkerung, Natur und Installationen vor Risiken zu schützen.
Wenn ein Jurist über Risiko sprechen muss, hat er viel zu sagen. Aber: „Wir Juristen müssen definieren“, so Uebersax. Denn auch die falsche Verwendung von Begriffen berge Gefahren in sich. Menschen mit Migrationshintergrund: Was dieser Begriff bedeuten soll, sei nicht wirklich klar. Denn einen Migrationshintergrund können auch Schweizer ohne ausländische Vorfahren haben, wie Peter Uebersax selbst, welcher im Ausland aufwuchs. Um das Migrationsrecht zu verstehen, müsse man klar unterscheiden, erklärt der Jurist und führt aus: ordentliche Migration versus „Overstayers“, freiwillige Wanderung von Menschen versus Flucht. All die Begriffe verbergen unterschiedliche Sachverhalte - und das Recht muss darum auch verschiedenartig damit umgehen.

Risiko „Überfremdung“
Doch wenn man über Migration und Ausländerfragen spricht, merkt man schnell, dass Nichtschweizerinnen und Nichtschweizer oft per se als Risiko angesehen werden. Diese Tatsache erstaunt nicht, wenn man die Angst im historischen Kontext anschaut. Stichwort „Fremdenpolizei“: Ende 19. bis anfangs 20. Jahrhundert erfand man in der Schweiz das Organ, welches vor dem gefährlichen „Fremden“ schützt. Dass man während dem Ersten Weltkrieg jeden Ausländer als Spion ansah, verwundert Peter Uebersax nicht. Schockiert ist er aber, dass auch heute noch das abstrakte, politische Risiko „Überfremdung“ unsere Gemüter beeinflusst.

Das Thema Migration dominiert unsere Medienlandschaft und die politischen Diskurse, obwohl die Zahlen es gar nicht legitimieren: Nur drei Prozent der Weltbevölkerung sind Migranten. Der grösste Teil der 65 Millionen Flüchtlinge weltweit sind intern Vertriebene – sprich: Sie verlassen ihr Heimatland nicht; von den 25 bis 30 Millionen Grenzübergänger bleibt der grösste Teil in der Zweiten oder Dritten Welt stecken. Überfremdung Europas? „Nicht wirklich“, sagt Peter Uebersax, und erinnert daran, dass alleine Jordanien und Libanon gleichviele Flüchtlinge aufgenommen haben wie ganz Europa.

Der Jurist lacht oft während des Referats. Er scheint eine Lösung gefunden zu haben, mit einer Realität umzugehen, die ihn stört. Er benutzt nicht das Wort „Ungerechtigkeit“, aber man sieht ihm an, dass er die Sachverhalte, die er uns vorstellt, nicht gutheisst.
„Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.“ Das Zitat von Max Frisch fasst die Kritik Peter Uebersax' zusammen. Wir gewichten als Gesellschaft unsere ökonomischen Interessen höher als die Leben der Individuen, welche von unseren Gesetzen betroffen sind. Der Ton des Juristen wird ernster, man merkt, dass für ihn das Migrationsrecht mehr als nur ein Forschungs- und Tätigkeitsbereich ist.

Komplexe Sachverhalte
Das Schweizer Migrationsrecht ist komplex: Die Bundesverfassung, das Ausländer-, Flüchtlings- und Bürgerrecht, verschiedene Rechtserlasse und der schweizerische Föderalismus beeinflussen die Leben der Ausländer in der Schweiz. Und so erlaubt die schweizerische Gesetzgebung auch mal, dass eine Gemeinde sich bei ihrem Kanton „freikaufen“ kann, damit sie keine Flüchtlinge aufnehmen muss.

Peter Uebersax zeigt eine Grafik: Die Schweiz umrahmt von zwei Kreisen. „Für mich ist das wie eine Abbildung vom Paradies, mit den verschiedenen Kreisen der Hölle darum herum“, scherzt er. Zur EU, den EFTA-Staaten oder einem sogenannten Drittstaat gehörend: Woher eine Ausländerin oder ein Ausländer kommt, wird beeinflussen, welches Schicksal sie oder er sich versprechen kann.

Um Migrationsrecht zu verstehen, müssen viele Regelungen durchblickt werden. Aber die Lösung von Peter Uebersax scheint relativ einfach: Flexibilität und Verhältnismässigkeit sind der Schlüssel zu richtigeren Entscheidungen. Das Migrationsrecht braucht Ventile. „Sonst explodiert irgendeinmal der Dampfkochtopf“. Wird die ordentliche Zuwanderung erschwert, wird es mehr Asylanträge geben; wird das Recht auf Asyl eingeschränkt, wird es mehr irreguläre Migration geben. Zum Glück erlaubt die Rechtspraxis ein bisschen Flexibilität, doch es ist nicht klar, wie die Ausschaffungsinitiative und der Wille für mehr „pfefferscharfe“ Gesetzesumsetzungen erlauben werden, die Verhältnismässigkeit beizubehalten - „politischer Beschuss“ ist vorprogrammiert.

Migrationsrecht und Menschenrechte
Das Migrationsrecht ist risikobehaftet, wenn man die Mittel anschaut, welche gegen Ausländer angewandt werden. „Diese sind teils absonderlich“, so Peter Uebersax. Gesetzeslücken bezüglich Elternnachzug, Familientrennungen, unbefriedigende Gesetze für Sans-Papiers, die Schwierigkeiten für Personen aus Drittstaaten, Zwangsmassnahmen: „Problematische Legislation gibt’s genug“, so der Jurist. Und wenn das schweizerische Migrationsamt in afrikanischen Ländern einen Spot ausstrahle, welcher davon abhalten soll, in die Schweiz zu migrieren, stimme etwas nicht mehr.

Was für uns selbstverständlich ist, wollen wir anderen nicht immer zugestehen. Menschen- und Grundrechte sollen aber alle Individuen schützen – und das gilt auch dann, wenn es „Schweinehunde“ sind. Die Bilder, welche uns Peter Uebersax zeigt, sind beeindruckend: aneinandergereihte Zelte, überfüllte Boote. „Europa schaut teilweise zu und unternimmt nichts“. Ein gefesselter Mann: Ein Bild aus einem Horrorfilm? Nein, eine Zwangsausschaffung. „Auch wenn es keine zehn sind, die so aussehen, es ist erschreckend, dass die Schweiz Menschen so behandelt“.

Über Rechtsberatung und Emotionen
Die Fragen im anschliessenden Vertiefungsworkshop zeigen, dass die Teilnehmenden glücklich sind, einen Rechtsexperten vor sich zu haben. Die Fragen und Fallbeispiele laden dazu ein, das Migrationsrecht zu reflektieren. Den Gesichtern der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sieht man an, dass die Schicksale der Betroffenen sie nicht unberührt lassen: Kopfschütteln, Stirnrunzeln, ernste Gesichter. Ich glaube, nicht nur ich vrespüre diese beklemmende Ohnmacht.

Peter Uebersax warnt: Wenn das Schweizer Migrationsrecht gegen die Menschenrechte verstösst, kann der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch uns verurteilen. „Es ist einfach nicht schön, dass die Schweiz eine Menschenrechtsverletzung begeht, vor allem wenn sie sich als Hort der Menschenrechte ansieht“.

Trotzdem will er die Schweiz nicht als Katastrophe darstellen. Der Umgang mit Migration sei ein kollektives Problem, dass gemeinsam mit allen europäischen Ländern angegangen werden müsse. Aber: „Man kann nicht so stolz sein auf die Schweiz“. Trotz seiner freudigen Natur ist das Fazit von unserem Gast eher düster: „Wir haben hier wirklich ein humanitäres Problem.“ Und es gelte, als
Gesellschaft daran zu arbeiten. Solidarisch und mit dem Elan von Menschen wie Peter Uebersax.

 

Text: Mélanie Baierlé
Fotos: Raphael Hünerfauth

 

 

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