Information | Förderung | Politik

>> AKTUELL>> SERVICE>> ÜBER UNS>> FÖRDERN HELFEN!
Sommerakademie > Sommerakademie 2018 > Berichterstattung > 

Gemeinsam über sich selbst hinaus wachsen

Dass Sport und Philosophie näher beieinander liegen als man denkt, zeigte der Workshop von ParkourOne an der Sommerakademie. Denn Parkour ist gar kein waghalsiger Extremsport. Im Gegenteil.

Um auf den Hinterhof der Kirche zu gelangen, müssen wir zuerst über einen geschmiedeten Zweimeterzaun klettern. Gleich zu Beginn des Workshops stellt uns Roger vor diese Aufgabe. Das fällt nicht allen leicht, aber mit gegenseitiger Hilfe gehts. Und genau darum dreht sich die Philosophie von Roger Widmer, unserem heutigen Workshopleiter. Er nimmt uns zuerst in einem Kreis zusammen, dann erzählt er von sich und seiner Firma ParkourOne

 

Die Leidenschaft zum Beruf machen

 

Roger wurde zuerst Goldschmied, und ein erfolgreicher noch dazu. Als das zu langweilig wurde, beschloss er, noch die gestalterische Maturität zu absolvieren, und flog nach einem halben Jahr gleich wieder raus. Das verstärkte seine bereits existierende Abneigung gegen das Schulsystem nur noch. Später wurde er Erwachsenenbildner, um das System zu verändern, wie er sagt. 

 

Dann kam alles anders.

 

Das Hobby wurde zum Beruf. Es ergab sich die Möglichkeit, etwas Gutes zu leisten und damit eine Firma zu gründen. Leider müsse Profit heute immer finanzieller Art sein, bemängelt er. Darum geht es ParkourOne aber nicht. 

 

Lösungsorientiertes Denken gefragt

 

Genug geredet. Wir stellen uns alle nebeneinander auf einen zentimeterhohen Absatz. Jetzt folgt die Aufgabe. Wir sollen uns alphabetisch aufreihen. Das bisschen Mauer auf dem wir stehen ist aber schmaler als unsere Füsse, wir dürfen auf keinen Fall den Boden berühren, wie damals in der Kindheit, als Krokodile lauerten oder heisse Lava unter einem blubberte.  

 

Das Alphabet ist schwer, wir ungeschickt. Zappelnd, aber vorsichtig halten wir uns aneinander fest. Trotzdem landet hin und wieder ein Fuss auf dem Boden. Schliesslich sind wir keine Kinder mehr, oder?  "Was habt ihr gerade getan?" fragt Roger, nachdem wir uns mehr schlecht als recht auf unseren Plätzen eigefunden haben. Wir drucksen herum, er liefert gnädig die Antwort. "Ihr seht Übungen nie als Ernstfall. Im Parkour aber ist jeder Fehler ein Ernstfall." Stimmt, zum Glück fand die Aufgabe nicht drei Meter über Boden statt. 

 

"Ihr seid gerade tausende Kompromisse eingegangen", fährt er fort. Wir wollten uns tatsächlich ungern einfach so berühren und aneinander vorbeiquetschen. Für Roger ist diese Berührungsangst ein gesellschaftliches Problem. Wir alle wissen, wovon er spricht. 

 

Die natürliche Bewegung

 

Roger nimmt ein Stück Kreide hervor und zieht eine Linie auf den Boden. Er erzählt uns mit einem Zeitstrahl die Geschichte von Parkour. 

 

Anfang des 20. Jahrhunderts schreibt der französische Marineoffizier Georges Hébert ein Buch über die sogenannte Methode Naturelle. Es ist eine Art der Fortbewegung über verschiedene Hindernisse. Sie erfordert Athletik, Tapferkeit und vor allem Hilfsbereitschaft anderen gegenüber. Das Motto ist "être fort pour être utile". Denn ohne gegenseitige Selbstaufopferung kommt man nicht zum Ziel. 

 

Dieses Buch fällt später Raymond Belle in die Hände, einem ehemaligen Kindersoldaten in Französisch-Indochina. Nach dem Ende des Krieges wird Belle nach Frankreich geschickt. Dort arbeitet er als Feuerwehrmann. Sein Mut und seine Fähigkeiten, Hindernisse zu überwinden, bringen ihm einiges Ansehen. 

 

In der Banlieue

 

Belle hat einen Sohn. Sein Name ist David. Und dieser Mann gilt heute als der Entwickler des urbanen Parkour. Der junge David und seine Freunde verbringen ihre ganze Freizeit auf dem Spielplatz, den die Mauern und Treppenhäuser ihrer Viertel ihnen bieten. Bald landet ein Video von ihnen im TV. Aus dieser Geschichte entsteht später der Film "Yamakasi" von Luc Besson. Die Berühmtheit führt zur Spaltung der Gruppe. Es entstehen verschiedene Richtungen, jede in ihrer Technik und Philosophie anders. Auch wenn die Idee der Methode Naturelle ursprünglich militärischer Natur war, hat Parkour ganz explizit nichts mit Militär zu tun.

 

Roger Widmer betrachtet sein vor uns ausgebreitetes Kreidebild. Es geht ihm um klare Werte. 

 

Die Hand der Werte

 

Deshalb entwickelten er und sein Team die TRuST-Methode. Das Symbol dafür ist die Hand. Jeder Finger hat seine Bedeutung. TRuST steht für Training und Standards. 

 

Der Daumen steht für die Konkurrenzfreiheit. Denn ohne sie können sich alle frei entfalten, jeder nach seinen oder ihren Möglichkeiten. Der Zeigfinger steht für Vorsicht. Egal wo, im Training hat Sicherheit oberste Priorität. Da man den Mittelfinger auch umdrehen kann, steht er sinnbildlich für Respekt. Ohne Respekt vor sich selbst kann kein Respekt anderen gegenüber und der Umwelt entstehen. Der Ringfinger symbolisiert Vertrauen, besonders das Vertrauen in sich selber. Dieser Sport fördert das Selbstbewusstsein. Er fordert aber auch das Selbstvertrauen heraus. Bescheidenheit zeigt sich im kleinen Finger. Es wird sowieso immer mehr Hindernisse geben, als man überqueren kann. Geballt bilden die Finger eine Faust. Das ist der Mut. Gefaltet zeigt sie Dankbarkeit. "Ich bin sehr dankbar für mein Leben, für meine Kinder", sagt Roger. 

 

Der halbe Rundkurs

 

Die nächste Aufgabe hat es in sich. Wir sollen über Mauern, Bänke und an Wänden entlang klettern, bis zu einem gewissen Punkt. Der ist auf einem Fensterbrett an einer Wand gegenüber. Bis dorthin müssen wir aber balancieren, uns am dichten Teppich aus Efeu am Turm der Kirche entlanghangeln und einen Sprung von locker eineinhalb Metern machen. Das wäre dann die Hälfte.  

 

Wir müssen uns gegenseitig stützen und manchmal hochziehen. Berührt jemand den Boden, formt Rogers Mund mit einem gnadenlosen Grinsen die Worte "alle zurück zum Anfang!". Wenig überraschend, zur Wand mit den viel zu weit auseinanderliegenden Fenstern gelangen wir gar nicht erst. Die Zeit ist längst um. 

 

Die Analyse

 

"Einige von Euch haben da drüben einen Sprung gemacht, den ihr in einem anderen Setting und alleine wohl nicht gewagt hättet. Ihr habt gemeinsam Momentum aufgebaut." Es geht im Parkour nicht nur ums Helfen. Man muss auch die Hand ausstrecken können und sagen: Hilf mir bitte! "In unserer Kultur ist das um Hilfe bitten fast verloren. Man darf ja keine Fehler machen!" sagt Roger mit einem klaren Blick an die Anwesenden. 

 

Wie wir es bis zu unserem Ziel geschafft hätten, will er uns aber nicht verraten. Genau solche "Informationsdefizite" wie er sie nennt, machen den Menschen aber neugierig. Problemlösung ist keine Zauberei: "Gesetzmässigkeiten bei Menschen sind immer gleich, wir vergessen nur sie anzuwenden." Man muss das gegebene Potential nutzen. 

 

Wenn man selber nicht weiter weiss, fragt man Menschen die wissen wie es geht. Das bedeutet aber nicht, dass man dadurch etwas direkt beherrscht. "Es braucht Training, es ist nicht alles wie Digitalfotografie, klick und es geht". Deshalb ist Entwicklungshilfe, wie er und sein Team sie zum Beispiel in Jerusalem betreiben, für ihn auch kein Tropfen auf dem heissen Stein. Steine hat es genug auf dem Weg. Laut diesem philosophischen Sport ist er nicht nur das Ziel, er kann auch Spass machen. Und Mut.

 

Text: Simon Schaffer

Unser Newsletter bietet jeden Monat News und aktuelle Infos zu Projekten und Partnern.

Tour de Science

Werden Sie Mitglied bei infoklick.ch und fördern Sie ganz gezielt die Partizipation von Jugendlichen. Zudem profitieren auch Sie von Vorteilen. Z.B. erhalten Sie 10 Prozent Rabatt bei der Teilnahme an unserer Sommerakademie. Hier geht's zur Anmeldung