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Bei den Kindern anfangen: "Rassismus und Xenophobie sind nicht angeboren sondern gelernt"

Eigentlich waren die Bundesräte Alain Berset und Doris Leuthard geladen. Stattdessen kam Prof. em. Dr. Iwan Rickenbacher die Ehre zuteil, die 10. Sommerakademie von infoklick.ch zu eröffnen. Mit seinem Impulsreferat "Fremdkörper - vom Umgang mit Minderheiten im Land der Minderheiten" machte der bekannte Polit- und Kommunikationsberater klar: Die Schweiz mag sich noch so demokratisch, integrierend und verbindend sehen – die Realität ist eine andere. Das zeigt die Geschichte. Aber auch für die Zukunft befürchtet Rickenbacher Ausgrenzungen. Hoffnung setzt er nicht zuletzt in die Jugendarbeit.   

 

"Wir Schweizerinnen und Schweizer sind stolz auf unser vielfältiges, multikulturelles Land und auf unsere Erfahrung, Minderheiten angemessen zu begegnen", beginnt Iwan Rickenbacher sein Impulsreferat zum Auftakt der Sommerakademie 2017. Er erwähnt den Kantonswechsel von Moutier als aktuelles Beispiel dafür und zitierte aus einer 1. Augustrede von Bundesrat Didier Burkhalter: "Die Schweiz schafft den Ausgleich zwischen den Religionen, Kulturen, Sprachen und Konfessionen. Ihre direkte Demokratie ist exemplarisch und ihr Föderalismus lässt den Minderheiten den nötigen Raum." Die Schweiz ermögliche jedem und jeder auf seine Art zu leben. Ein idyllisches Bild von einem Land ganz ohne Aussenseiter.  

 

Manche Gruppierungen wurden regelrecht verfolgt

 

Indes: die Geschichte spricht eine andere Sprache. Rickenbacher recherchierte dazu im Historischen Lexikon der Schweiz und fand etliche über kürzere oder längere Zeiträume ausgegrenzte Randgruppen beschrieben: die Behinderten und Kranken im Mittelalter, Vertreter gewisser Berufe, wie Scharfrichter, Totengräber oder Prostituierte, dann Juden, Täufer, Zigeuner, Arme, Wanderhandwerker, Hausierer, Spielleute. Manche Gruppen seien regelrecht verfolgt worden, andere des Diebstahls bezichtigt oder der Spionage. Auch Ausschluss von bestimmten Orten oder Berufen waren Ausgrenzungsmethoden. "Und", so Rickenbacher weiter: "Es dauerte lange, bis ins 19. und 20. Jahrhundert, bis Arme, Behinderte, Angehöriger diskriminierter Minderheiten, wie etwa Homosexuelle, als gleichwertig empfunden worden sind. Noch nicht von allen, aber doch von einigen."

 

Die Schweizer Juden beispielsweise hätten erst 1867 auf internationalen Druck hin die Bürgerrechte erhalten. Die jenische Kultur sei gar bis 1973 unterdrückt worden, indem man den Eltern die Kinder wegnahm. Das Schlagwort Kinder der Landstrasse ist den meisten bekannt. Rickenbacher schliesst die Aufzählung, die so stark mit den 1. Augustworten des Bundesrats kontrastiert, mit den Arbeitsimmigranten, welche Ende des 19. Jahrhunderts neue Randgruppen ergeben hätten, sowie den Zuwanderern dunkler Hautfarbe und Angehörigen des Islams in jüngerer Zeit. Und er fragt: "Ist Ausgrenzung unausweichlich?"  

 

Umgehend erwähnt der Referent, der selbst überzeugt ist, "dass die allermeisten, die in den letzten 200 Jahren gekommen sind, für die Schweiz ein Riesenkapital sind", eine ganze Reihe von Flüchtlingen, die hierzulande mit offenen Armen aufgenommen wurden: Ungaren (1956), Tibeter (1959), Tschechoslowaken (1968) und Vietnamesen (1975). Warum? Kurz gesagt: aus Solidarität, entstanden durch breite Aufarbeitung der jeweiligen Fluchtgründe in den Medien, oder auch, wie im Fall der Ungarn, "weil sie ein Schicksal erlebten, das auch einen selber hätte treffen können." Dann erzählt Rickenbacher von den Italienern, die anfänglich noch Auslöser der ersten Überfremdungsinitiativen gewesen seien und dann nach und nach fast als Einheimische empfunden wurden. Ausgrenzung könne sich also auflösen, so wie auch konfessionelle Unterschiede hierzulande selbst bei ethisch hoch geladenen Abstimmungen nicht mehr relevant seien.  

 

Keine Entwarnung - Vorurteile regieren weiter

 

Dennoch sieht Rickenbacher "keinen Grund, Entwarnung zu geben". Noch immer würden Juden - in der Schweiz sind es gerademal 15 000 - Eigenschaften zugesprochen, die eher bedrohlich erscheinen, wie er in Alltagsgesprächen mit sonst durchaus gemässigten Menschen feststellt. Dann die Bosnier und Albaner, die Muslime, die Russen die Deutschen – allesamt betroffen vom Phänomen, dass das Verhalten Einzelner auf ganze Gemeinschaften übertragen wird - aufgebauscht durch die Medien. "Wir kennen es alle: Und immer wieder dienen Einzelfälle dazu, die Vorurteile zu bestätigen", sagt Rickenbacher. 

 

Dann spricht er über polemisch geführte politische Debatten im Zusammenhang mit Migration, die das ihre zur Bildung von Vorurteilen beitragen, über permanenten Wahlkampf mit Abgrenzungen, Zuspitzungen und reduzierten markigen Botschaften als Merkmale, und über Sündenböcke, die leider immer wieder ausgewählt würden und als Schuldige für Missstände herhalten müssten. „Nur sind es nicht mehr Ziegenböcke, wie sie einst als stellvertretende Träger von Verfehlungen in die Wüste geschickt wurden, jetzt sind es Menschen." Das alles und die aufgezeigte lange und ununterbrochene Geschichte der Randgruppen lässt Iwan Rickenbacher vermuten, "dass es auch in Zukunft Fremdkörper und Ausgegrenzte geben wird."

 

Konkret sieht er Ansätze von Stigmatisierungen für verschiedene Gruppen. Zum Beispiel ältere Menschen – sie könnten doch aus dem Leben scheiden, um sich und andere zu erlösen. Oder Menschen mit einer genetisch bedingten Behinderung – eigentlich feststellbar mir pränataler Diagnostik. Sie hätten gar nicht geboren werden dürfen. Raucher, Falschesser und Falschtrinker – denen gehören die Versicherungsleistungen gekürzt und/oder die Prämien erhöht. Rickenbacher drückt das absichtlich zugespitzt und provozierend aus, um die Gefahr von einseitiger Gewichtung der Eigenverantwortung gegenüber Solidarität in der Gemeinschaft aufzuzeigen. 

 

"Rassismus ist nicht angeboren"

 

Was also ist zu tun, um dem etwas entgegenzusetzen beziehungsweise vorzubeugen? "In der Schule ansetzen", ist Rickenbacher überzeugt. Aller ihm Sorgen bereitenden Tendenzen hin zu immer mehr Privatschulen, Homeschooling usw. zum Trotz: "Wenn es noch eine übergreifende Plattform gibt, wo sich Menschen aller Couleur während längerer Zeit treffen, dann ist es die Schule. Während neun Jahren und 15 000 Stunden können Vorurteile abgebaut und Freundschaften konstituiert werden." Natürlich mithilfe pädagogischer Konzepte. Genauso wichtig die ausserschulischen Institutionen für Kinder und Jugendliche: An ihnen sei es, ihre Angebote so niederschwellig wie möglich zu gestalten, um alle miteinzubinden. "Ein guter Grund für mich, heute hier in Solothurn zu sein", so Rickenbacher zum Publikum abschliessend.

 

„Ich bin überzeugt, dass Rassismus und Xenophobie nicht angeboren sondern gelernt sind, und meine darum, dass Ihre Arbeit, dort wo bei Jugendlichen die wichtigen Lebenseinstellungen entstehen und verstärkt werden, so wichtig ist."  Beifall, Dank und kurzer Austausch mit dem Publikum. Dann zieht Iwan Rickenbacher weiter. Er hat die Teilnehmenden der 10. Sommerakademie mit einem pointierten aber auch einordnenden Impulsreferat auf das heurige Kernthema "Fremkörper" eingestimmt. Zurück bleibt Betroffenheit über die immer wieder stattgefundenen und stattfindenden Ausgrenzungen aber auch ein Gefühl der Hoffnung, dass etwas dagegen getan werden kann, vorab in der Arbeit mit kommenden Generationen.  

 

"Ich habe erlebt, wie es ist eine Minderheit zu sein"

 

Übrigens: Iwan Rickenbacher kam quasi als Ersatz für zwei Bundesräte nach Solothurn. Als nämlich Doris Leuthard und Alain Berset absagten, traten die Organisatoren der Sommerakademie am 22. Juni an ihn heran, mit der Anfrage, ein Impulsreferat zu einem politischen Thema in Zusammenhang mit Fremkörpern zu halten. Rickenbacher sagte kurzerhand zu, setzte sich einen Titel und begann mit der Arbeit, sprich zunächst der vertieften Recherche, wie er sie auch bei Mediationen, für die er bekannt ist, zu machen pflegt. "Am Nachmittag habe ich Stichwörter und Notizen aufgenommen, am nächsten Morgen dann zwischen 7 und 9 geschrieben, Kapitel für Kapitel." Entstanden ist ein Vortrag über ein Thema, über das er so noch nie öffentlich referiert hat. Und doch war es ihm keineswegs fremd. Rickenbacher begleitet seit 20 Jahren kommunikativ beratend den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund und ist daher mit den Vorurteilen den Juden gegenüber und ihren Sicherheitsproblemen vertraut. Auch die Fahrenden beriet er schon in Öffentlichkeitsarbeit und bei der Standplatz-Thematik.

 

Als Lehrer zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn und danach als Erziehungswissenschaftler habe er ebenfalls mit Vorurteilen und Prädisposizionen zu tun gehabt. Und selbst einen persönlichen Bezug gibt es noch: Als Klein-Iwan als erstes Kind einer Tessinerin in den Kindergarten kam, sprach er nur Italienisch, und das in einer Zeit in der Italiener noch als "Tschinggen" bezeichnet wurden. "Ein Stück weit habe ich da erlebt, was es heisst, eine Minderheit zu sein." Nach drei Monaten konnte der Junge Deutsch. Die Sache hatte sich erledigt.

 

Mehr zur Person: https://de.wikipedia.org/wiki/Iwan_Rickenbacher

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