Generationenkonflikte – heiss debattiert, aber kaum existent
Die Schweizer Gesellschaft wird älter. Während von den Frauen mit Jahrgang 1940 nur ein Siebtel kinderlos blieb, ist es bei den 1965 geborenen schon fast ein Drittel. Der Geburtenrückgang geht mit einer massiv gestiegenen Lebenserwartung einher: Um 1900 lag sie bei 47 Jahren, heute liegt sie über 80 Jahre. Am meisten zur Alterung der Gesellschaft wird in den nächsten Jahrzehnten der Umstand beitragen, dass die geburtenstarken Jahrgänge ins Alter kommen. Nur die Migration wirkt diesem Trend entgegen: Einwanderer sind eher jung und bekommen mehr Kinder.
Dies hält der «Generationenbericht Schweiz» fest, den das Nationale Forschungsprogramm «Kindheit, Jugend und Generationenbeziehungen im gesellschaftlichen Wandel» (NFP 52) vorlegt. Damit verfügt die Schweiz erstmals über eine die Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen umfassende Synthese, die mit ihrem breiten Themenspektrum – vom internationalen Vergleich der verschiedenen Lebensphasen über Fragen der Pflegebedürftigkeit und finanziellen Umverteilung bis hin zu den intergenerationellen Beziehungen und den Herausforderungen an die Arbeitswelt – sowie den zahlreichen Statistiken auch als Nachschlagewerk dient.
Kein sozialpolitisches Nullsummenspiel
In der öffentlichen Debatte wird oft gefordert, dass mit Blick auf die Sozialwerke mehr Kinder zur Welt gebracht werden sollten, womöglich so viele, dass die Bevölkerung langfristig stabil bliebe (210 Kinder pro 100 Frauen). Dies ist ein Fehlschluss, wie der «Generationenbericht Schweiz» feststellt. Tatsächlich würde so die Alterung der Gesellschaft zwar abgeschwächt, doch die soziale Belastung der Erwerbstätigen stiege sogar an, da sie nicht nur für die Bedürfnisse der Alten aufkommen müssten, sondern auch für die der Kinder und Jugendlichen. Alle demografischen Szenarien zeigen, dass in Zukunft weniger Erwerbstätige für mehr Rentner aufkommen müssen. Wer jedoch glaubt, dass den Jungen fehlt, was den Alten zukommt, und dass diese von den Erwerbstätigen profitieren, geht von einem sozialpolitischen Nullsummenspiel aus. Die Zusammenhänge sind komplexer. Alte Personen brauchen medizinische Hilfe – und verhelfen so jüngeren Personen zu Arbeit und Lohn. Wohl veranlasst der Staat im Rahmen der Gesundheitsversorgung finanzielle Transfers von Jung zu Alt – doch die verändern sich mit der demografischen Alterung überraschend wenig, weil die Gesundheitskosten primär in Abhängigkeit von der Nähe zum Tod steigen und nicht mit dem numerischen Alter. Die so genannten Generationenbilanzen berechnen, wie viele Steuern, Gebühren, Prämien etc. eine Generation dem Staat abliefert und wie viel sie in Form von Renten, Familienzulagen, Bildungs- und Gesundheitsausgaben bezieht. Solche Bilanzen sind heikel, weil sie stark von ökonomischen Prognosen und Änderungen der sozialpolitischen Rahmenbedingungen abhängen. Vor allem aber blenden sie alle privaten Transfers zwischen den Generationen aus. Und die sind sehr gross, wie der «Generationenbericht Schweiz» festhält.
Grossmütter leisten viel Arbeit
So wird in Schweizer Haushalten viel geerbt, mehr sogar als gespart. Im Jahr 2000 etwa wurden in der Schweiz 28,5 Milliarden Franken (fast 7 Prozent des Bruttoinlandprodukts) in Form von Erbe umverteilt. Dabei gibt es jedoch grosse Ungleichheiten. Über 50 Prozent der Erbenden erhalten weniger als 50'000 Franken, 0,6 Prozent aber über 5 Millionen. Sie teilen fast ein Drittel des gesamten Erbkuchens unter sich auf. Ob Erbschaften deshalb auch die gesellschaftliche soziale Ungleichheit vertiefen, ist umstritten. Sicher ist nur, dass sie die ohnehin ausgeprägte Ungleichheit unter den älteren Menschen verschärfen, die zunehmend in den Genuss von Erbschaften kommen. Beachtlich sind auch die nichtfinanziellen Transfers von Alt zu Jung. Grosseltern betreuen Kleinkinder, unentgeltlich und insgesamt während 100 Millionen Stunden pro Jahr, was ungefähr einer Arbeitsleistung von 2 Milliarden Franken entspricht. 80 Prozent dieser Arbeit werden von Grossmüttern geleistet. Umgekehrt werden hochaltrige Menschen oft privat gepflegt. Nur ein Fünftel der über 80 Jährigen lebt im Alters- oder Pflegeheim, sechs von zehn zu Hause lebenden Pflegebedürftigen werden von Angehörigen betreut. Der Wert der privaten Pflegearbeit beträgt schätzungsweise jährlich 10 bis 12 Milliarden Franken. Auch diese Arbeit wird zu 80 Prozent von Frauen erledigt.
Eine Vielfalt intergenerationeller Initiativen
Der «Generationenbericht Schweiz» empfiehlt die Etablierung einer Vielfalt intergenerationeller Initiativen. Diese könnten etwa die breitere Finanzierung der Altersvorsorge, Erhöhung der Lebensarbeitszeit für Motivierte und eine gezielte Gesundheitsförderung umfassen. Dadurch würde sich die sozialpolitische Belastung nachkommender Generationen nicht oder nur moderat erhöhen. Ferner sollten die grösseren politischen Reformvorhaben eine Generationenverträglichkeits-Prüfung unterzogen werden. Diese könnte die Auswirkung der Reformen auf verschiedene und zukünftige Generationen untersuchen. Intergenerationelle Initiativen existieren zwar in vielen Gemeinden und Städten, aber ihre institutionelle Verankerung ist noch lückenhaft.
Publikation
Pasqualina Perrig-Chiello, François Höpflinger, Christian Suter: Generationen
– Strukturen und Beziehungen. Generationenbericht Schweiz.
Seismo-Verlag, Zürich 2008 (französische Ausgabe ab Oktober 2008).
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